Revision 40 vom 2012-11-07 14:03:06

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Analysedateien (AWF)

AWFs (Analysis Work Files) sind Datenbanken bei Europol, die primär für die interne Analyse von einzelnen Fällen oder Phänomenen von EU-weiter Bedeutung sind, der sogenannten operativen Fallanalyse. Operative Analyse heißt unter anderem, dass Europol versucht rauszufinden, welche Personen oder Gruppen zukünftig an Straftaten von erheblicher Bedeutung beteiligt sein könnten. Wegen dieser Führung einer Verdächtigenkartei stand Europol laut einem Paper der Rosa Luxenburg Stiftung (pdf) von Anfang an unter starker Kritik. (Anmerkung: Dass eine sich als rechtsstaatlich verstehende Polizei überhaupt eingestandenermaßen und ihren eigenen Kriterien Unschuldige in den Fokus nimmt, verrät viel über den Geist, der inzwischen im Sicherheitsestablishment weht.)

Eine Analysedatei ist die jeweilige Datenbank einer Analysegruppe von Europol. Zu einer Analysegruppe gehören Analytiker_innen und sonstige Beamte von Europol sowie die Verbindungsbeamten und/oder Sachverständige der Mitgliedstaaten an. Nur die Analytiker_innen sind befugt, Daten in eine Analysedatei einzugeben, aber alle anderen Teilnehmer_innen einer Analysegruppe können aus ihr Daten abrufen. Die Analysegruppe veröffentlicht regelmäßig Analyseberichte, welchen den eingebenden Behörden zur Verfügung gestellt werden und auch personenbezogene Daten enthalten.

Rechtsgrundlage

Artikel 14 Ratsbeschluss

Seit Lissabon ist das Artikel 14 des Beschlusses des Rates vom 6. April 2009 zur Errichtung des Europäischen Polizeiamts (Europol)

Artikel 14

(1) Soweit dies zur Wahrnehmung seiner Aufgaben erforderlich ist, kann Europol in Arbeitsdateien zu Analysezwecken Daten über in seine Zuständigkeit fallende Straftaten einschließlich Daten über damit im Zusammenhang stehende Straftaten gemäß Artikel 4 Absatz 3 speichern, ändern und nutzen. Diese Analysedateien können Daten zu folgenden Gruppen von Personen enthalten:

Personen, die nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts des betreffenden Mitgliedstaats einer Straftat oder der Beteiligung an einer Straftat, für die Europol zuständig ist, verdächtigt werden oder die wegen einer solchen Straftat verurteilt worden sind; Personen, in deren Fall nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts des betreffenden Mitgliedstaats faktische Anhaltspunkte oder triftige Gründe dafür vorliegen, dass sie Straftaten begehen werden, für die Europol zuständig ist., Personen die bei Ermittlungen in Verbindung mit den betreffenden Straftaten oder bei anschließenden Strafverfahren als Zeugen in Betracht kommen; Personen, die Opfer einer der betreffenden Straftaten waren oder bei denen bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Opfer einer solchen Straftat sein könnten; Kontakt- und Begleitpersonen und Personen, die Informationen über die betreffende Straftat liefern können.

Personenbezogene Daten, aus denen die rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie Daten über Gesundheit oder Sexualleben dürfen nur verarbeitet werden, wenn sie für die Zwecke der betreffenden Datei unbedingt notwendig sind und wenn diese Daten andere in derselben Datei enthaltene personenbezogene Daten ergänzen. Es ist untersagt, unter Verletzung der oben genannten Zweckbestimmung eine bestimmte Personengruppe allein aufgrund der oben genannten empfindlichen Daten auszuwählen.

Der Rat erlässt nach Anhörung des Europäischen Parlaments mit qualifizierter Mehrheit die vom Verwaltungsrat nach Anhörung der gemeinsamen Kontrollinstanz erstellten Durchführungsbestimmungen zu den Analysedateien, die insbesondere genaue Angaben über die in diesem Artikel vorgesehenen Arten personenbezogener Daten, über die Sicherheit dieser Daten und über die interne Kontrolle ihrer Verwendung enthalten.

(2) Diese Dateien werden zu Zwecken der Analyse, die als Zusammenstellung, Verarbeitung oder Nutzung von Daten zwecks Unterstützung der kriminalpolizeilichen Ermittlungen zu verstehen ist, errichtet. Für jedes Analyseprojekt wird eine Analysegruppe gebildet, in der die folgenden Teilnehmer eng zusammenarbeiten:

a) Analytiker und sonstige Mitglieder des Europol-Personals, die der Direktor benennt;

b) Verbindungsbeamte und/oder Experten der Mitgliedstaaten, von denen die Informationen stammen oder die von der Analyse im Sinne des Absatzes 4 betroffen sind.

Nur die Analytiker sind befugt, Daten in die jeweilige Datei einzugeben und diese Daten zu ändern. Alle Teilnehmer der Analysegruppe können Daten aus der Datei abrufen.

(3) Auf Ersuchen von Europol oder aus eigener Initiative übermitteln die nationalen Stellen vorbehaltlich des Artikels 8 Absatz 5 alle Informationen an Europol, die für die betreffende Analysedatei erforderlich sind. Die Mitgliedstaaten übermitteln die Daten nur, soweit diese auch nach dem jeweiligen nationalen Recht für die Zwecke der Verhütung, Analyse oder Bekämpfung von Straftaten verarbeitet werden dürfen. Die von den benannten zuständigen Behörden kommenden Daten können je nach Dringlichkeit gemäß Artikel 8 Absatz 2 unmittelbar in die Analysedateien aufgenommen werden.

(4) Bei allgemeinen und strategischen Analysen werden sämtliche Mitgliedstaaten über die Verbindungsbeamten und/oder die Experten in vollem Umfang von den Ergebnissen der Arbeiten in Kenntnis gesetzt, insbesondere durch Übermittlung der von Europol erstellten Berichte.

Geht es bei der Analyse um Einzelfälle, die nicht alle Mitgliedstaaten betreffen, und dient sie unmittelbar operativen Zwecken, so nehmen Vertreter der folgenden Mitgliedstaaten daran teil:

a) der Mitgliedstaaten, von denen Informationen stammen, auf die hin die Errichtung der Analysedatei beschlossen worden ist, oder die von den Informationen unmittelbar betroffen sind, sowie der Mitgliedstaaten, die von der Analysegruppe zu einem späteren Zeitpunkt zur Teilnahme aufgefordert werden, weil sie inzwischen ebenfalls betroffen sind;

b) der Mitgliedstaaten, die nach Befragung des Indexsystems gemäß Artikel 15 zu der Ansicht gelangen, dass sie Kenntnis von den Informationen haben müssen, und die dies nach den in Absatz 5 dieses Artikels festgelegten Bedingungen geltend machen.

(5) Der Informationsbedarf kann von den entsprechend ermächtigten Verbindungsbeamten geltend gemacht werden. Jeder Mitgliedstaat benennt und ermächtigt zu diesem Zweck eine begrenzte Anzahl von Verbindungsbeamten. ...

§ 2 und § 4 Europol Gesetz

Errichtungsanordnungen

Für Analysedateien sind nach deutschem Vorbild Errichtungsanordnungen (opening orders) vorgesehen. Der JSB darf zu ihnen "Stellungnahmen" abgeben. Diese Errichtungsanordnungen werden per Formular ausgehandelt. Nach Darstellung in Europols FAQ zu den Analysedateien (enthält auch ein Beispiel für eine Errichtungsanordnung) ist das Verfahren dazu wenig datenschutzfreundlich. De facto müssen sich die Beamten wohl nur dann die Mühe von Verhältnismäßigkeitsabwägungen machen, wenn sie Dinge "Racial origin", Glaube, Politische Ansichten oder "Sexual life or health" speichern wollen. Dementsprechend äußert sich sogar die Europol-FAQ des ULD Schleswig-Holstein eher kritisch zum Kontrollwert der Papiere.

Die Errichtungsanordnungen werden vom Verwaltungsrat oder genehmigt oder bei "Dringlichkeit" direkt vom Direktor von Europol. Zusätzlich zu den Errichtungsanordnungen gibt es jeweils zwei "Arbeitsdokumente", die beschreiben, was das alles bedeutet (Project Plan) und woher die Daten kommen sollen (Data Collection Plan).

Eine sehr informelle Beschreibung des Vorgehens bei der Erstellung einer AWF aus Sicht eher unbedarfter Polizist_innen erschien in einem Bericht in der österreichischen Zeitschrift "Kirminalpolizei", 12/2003 .

Herkunft der Daten für die Analysedateien

Die Übermittlung der Daten geschieht nach Artikel 14 Absatz 3 des Beschluss des Rates vom 6. April 2009 zur Errichtung des Europäischen Polizeiamts. Die praktische Ausführung wird in einem in der NRW-Polizeizeitung Streife (4/2008) erschienen Bericht beschrieben. Danach bekommen die Analytiker_innen die Daten von den Verbindungsbeamten der Mitgliedsstaaten, welche widerum die Daten von den lokalen Spezialabteilungen für Organisierte Kriminalität (OK) und Staatsschutz der Polizeibehörden bekommen. Die Polizeibehörden, die den Analysegruppen Daten geliefert haben, bekommen das Analysergebnis von Europol mitgeteilt.

Anzahl Analysedateien

Im Jahre 2007 gab es 16 Analysedateien (Analysis Work Files,AWF) und im Jahre 2008 18 Analysedateien und im Jahre 2010 21 Analysedateien. Die Analysedateien werden in unterschiedliche Bereiche, wie Drogenhandel, Mord (Verbrechen gegen das Leben), Organisierte Kriminalität und Terrorismus eingeteilt.

Bereich

2007

2004

2003

Drogenhandel

3

4

4

"Verbrechen gegen Personen"

3

3

3

Wirtschaftskriminalität

2

5

5

"Organisierte Kiminalität"

4

2

3

"Terrorismus"

2

2

2

Geldfälschung

2

2

2

Quellen: Die Zahlen für 2003 und 2004 kommen aus dem Europol Jahresbericht 2005, Die Daten von 2007 aus dem Jahresbericht von 2007

Personendaten in den AWFs

Nach offizielen EU-Angaben stehen folgende Personen in den AWFs

  1. Personen, die nach Maßgabe des nationalen Rechts des betreffenden Mitgliedstaats einer Straftat oder der Beteiligung an einer Straftat, für die Europol zuständig ist, verdächtigt werden oder die wegen einer solchen Straftat verurteilt worden sind
  2. Personen, nach Maßgabe des nationalen Rechts eines Mitgliedstaates verdächtigt werden, Straftaten zu planen, für die Europol zuständig ist
  3. Personen, die bei Ermittlungen in Straftaten oder bei Strafverfolgungen als Zeugen in Betracht kommen
  4. Personen, die Opfer einer Straftat waren oder Opfer einer Straftat werden können
  5. Kontakt- und Begleitpersonen
  6. Personen, die Informationen über die betreffenden Straftaten liefern können

Indexsystem

Für die in den AWFs gespeicherten Daten erstellt Europol ein Indexsystem. Der Direktor, die stellvertretenden Direktoren, die ordnungsgemäß ermächtigten Europol-Bediensteten und die Verbindungsbeamten dürfen auf das Indexsystem zugreifen.

Speicherfristen

Die Daten dürfen nicht länger als drei Jahre gespeichert werden. Europol prüft jährlich, ob für die Zwecke der betreffenden Datei eine weitere Speicherung erforderlich ist. Der Direktor von Europol kann gegebenenfalls beschließen, die Daten weitere drei Jahre lang zu speichern. Der JSB muss informiert werden, wenn ein Datum durch Zuspeicherungen länger als fünf Jahre in einem AWF liegt.

Anmerkung: Angesichts des quasi-ehrenamtlichen Charakters des JSB ist nicht vorstellbar, dass die entsprechende Fälle tatsächlich ansehen können.

Handling Codes für AWFs

Datensätze in den Analysedateien haben einen von den speichernden Staaten bestimmten Handling Code:

Ohne Handling Code

können die Daten an die Analysegruppe und an andere interessierten Mitglieder von Europol weitergereicht werden.

Handling Code Stufe I
Dürfen die Daten vor Gericht nur mit Zustimmung der speichernden Partei verwendet werden.
Handling Code Stufe II

Die Daten dürfen auch innerhalb der Mitgliedsstaaten von Europol nur mit Zustimmung der speichernden Partei weitergegeben werden.

Handling Code Stufe III
Hier legt die speichernde Stelle die Weitergabepraxis der Daten per Freitext fest.

Quelle: FAQ zu den Analysedateien (pdf)

Beispiele für Analysedateien

HYDRA

Hydra ist eine Analysdatei für weltweiten islamistischen Terrorismus.

DOLPHIN

Existiert seit 2003 und ist nach offizieller Aussage für nicht-islamistische Terrorismus zuständig. Nach der breiten Auslegung des Terrorismusbegriffs von Europol fallen darunter auch militante Tierschutz- und Umweltorganisationen.

In Bt-Drucksache 17/3143 wird etwa ausgeführt:

Europol hat die AWF "Dolphin" eingerichtet, in welcher Straftaten u. a. mit Bezug zu militanten Tierschützern auswertet werden. Deutsche Strafverfolgungsbehörden übermitteln Informationen zu diesen Straftaten über das Bundeskriminalamt an die AWF ,,Dolphin", sofern zwei oder mehr EU-Mitgliedstaaten von der Straftat betroffen sind und aufgrund des Umfangs, der Bedeutung und der Folgen der Straftat ein gemeinsames Vorgehen der EU-Mitgliedstaaten erforderlich ist.

(Anmerkung: Mit BKA sind vermutlich die Verbindungsbeamte bei Europol gemeint, da diese offiziell (auch die von Bundespolizei, Zoll und der Länder) zum BKA gehören.)

CHECKPOINT

CHECKPOINT soll offiziell Schlepperbanden bekämpfen. Im Ziel stehen dabei offenbar Organisationen wie eine "Pachtou", die angeblich Menschen aus Kurdisch-Irak und Afghanistan in die EU gebracht haben soll.

CYBORG

Die seit 2009 existierende Analysedatei Cyborg soll Organisierte Kriminalität im Netz verfolgen.

CANNABIS

Laut Telepolis vom Juni 2010 ist diese AWF in Planung für Cannabishandel und -produktion.

Monitor

Die AWF Monitor erfasst allerlei Daten zu Bikern. c't 14.9.2012: "Europol sammelt Daten über Rocker" beschreibt einige der Praktiken, insbesondere auch, wie solche AWFs durch Fragebögen, die an die Teilnehmenden verschickt wurden, befüllt werden sollen.

Terrorismusberichte

Der Europol Terrorismusreport von 2010 beschäftigt sich, neben Terrorismus, auch mit Rechten und Linken "Extremist_innen" (right-wing extremism, left-wing extremism; hier ist die Sprache schon verräterisch). Dabei wird z.B. erwähnt, dass die Anzahl abgebrannter Autos in der BRD stark angestiegen sei. Des weiteren wird ANTIFA im angehängten Glossar erklärt.

Technische Umsetzung

Innerhalb von Europol heißt das Programm, welches die AWFs ermöglicht. OASIS, "Overall Analysis System for Intelligence and Support". Dieses war nach Aussagen des Jahresberichtes 2008 von Europol im Jahre 2007 voll einsatzfähig. Laut dem Jahresbericht ist OASIS ein System, welches verschiedene Software-Anwendungen ermöglicht. Insbesondere auch Text- und Data Mining. Laute Jahresbericht von 2008 hat Europol für OASIS den Professional Service Award 2008 from the International Association for Law Enforcement Intelligence Analysts (IALEIA) bekommen. Dieser Preis zeichnet Organisationen aus, die den größten Fortschritte in der Benutzung von intelligenten Analysesystemen im Sicherheitsbereich gemacht haben:

  • the award is given to ‘the organisation making the most significant progress utilising intelligence analytical techniques to support law enforcement objectives’.

Austausch mit Drittstaaten

Der LfDI Hessen seinem 37. TB (2008) Verträge nach dem Dänischen Protokoll, das den Zugriff von Drittstaaten auf Analysedateien erlaubt, und zwar mit Australien, Kroatien, USA, Schweiz und Interpol. Im Zuge der Prüfungen kam heraus, dass schon etliche Verträge dieser Art geschlossen waren, ohne dass der JSB informiert worden wäre.

Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist, dass im Rahmen der Verfahren nach dem dänischen Protokoll Europol Datenschutzberichte zu Drittstaaten erstellt ("Bock zum Gärtner-Prinzip"). Im 37. TB LfDI Hessen (2008) sind hier Russland und Israel als Fälle mit Nachbesserungsbedarf erwähnt.

Weitere Infos zu den AWFs

TODO: AWFs sollen zusammengelegt werden: http://register.consilium.europa.eu/pdf/en/11/st06/st06049.en11.pdf